Thursday, February 16, 2006

Tintin, der Prophet

Wie geht man mit den Mohammed-Karikaturen um? Diese Frage stellten sich viele Redaktionen. Für das französische Satireblatt Charlie Hebdo war die Antwort klar. von bernhard schmid

Paris am vorigen Mittwoch um die Mittagszeit: es ist ein schier aussichtsloses Unterfangen, ein Exemplar der satirischen Wochenzeitung Charlie Hebdo zu ergattern. »Seit Stunden ausverkauft«, heißt es an meinem Stammkiosk. »Keine Chance«, höre ich an zwei anderen Verkaufsstellen für Zeitungen und Zeitschriften.
So viel Rummel um Charlie Hebdo ist ungewohnt. Normalerweise dürften ihre wöchentlichen Verkaufszahlen etwas über 50 000 liegen – vorige Woche lag die Auflage bei 400 000, inklusive drei Nachdrucken. Am Sonntag ist die großformatige Wochenzeitung, die üblicher Weise zur Hälfte aus Zeichnungen und Karikaturen und zur anderen Hälfte aus Text besteht, in Paris schon wieder nahezu überall ausverkauft.
Bereits vor ihrem Erscheinen hatte sich herumgesprochen, dass die neueste Auflage die heiß umstrittenen Karikaturen des islamischen Propheten, aber auch eine Reihe hauseigener Zeichnungen zum aktuellen Streit enthalten werde. Daraufhin setzte ein ungeheurer Run ein. Es war wohl diese besondere Mischung aus Neugier, Sensationslust und Trotz sowohl gegenüber den Protesten fundamentalistischer Gruppierungen in der arabischen Welt als auch gegenüber den eilfertigen Distanzierungen der offiziellen Politik – vorige Woche verurteilte Präsident Jacques Chirac persönlich die »Provokation« der Zeitung –, die dem Blatt die plötzliche Popularität bescherte.
Die Zeitung, die ein politisches Spektrum von libertär-antiautoritär bis linksliberal und pro-europäisch abdeckt, veröffentlichte die Mohammed-Karikaturen nicht als erstes französisches Printmedium. Schon am 1. Februar war die eher konservative Boulevardzeitung France Soir unter dem Titel »Ja, man darf Gott karikieren« erschienen. Im Blatt­inneren fanden sich die zwölf Karikaturen aus der dänischen Gazette Jyllands-Posten nachgedruckt, begleitet von einem längeren Leitartikel. Noch am Tag des Erscheinens jedoch feuerte der Eigentümer von France Soir, der christliche Ägypter Raymond Lakdar, ein Geschäftsmann und Milliardär, der die vom Bankrott bedrohte Boulevardzeitung vor rund zwei Jahren aufkaufte, den für die Publikation verantwortlichen Chefredakteur, Jacques Lefranc. Begründung: Er habe Öl ins Feuer gegossen und es an »Respekt für religiöse Gefühle« mangeln lassen.
Im Fall von France Soir mag man sich über die Motive, die Karikaturen nachzudrucken, streiten: Verteidigung der Religionsfreiheit, die ja auch die Freiheit einschließt, sich den Verhaltensvorschriften einer bestimmten Religionsgruppe nicht zu unterwerfen? Oder eher das Anliegen, dass »wir« es »denen«, also den Moslems, »mal zeigen« werden? In der teilweise rechtspopulistisch geprägten Veröffentlichungspraxis der Gazette könnte man sicherlich Anhaltspunkte für beide Thesen finden.
Charlie Hebdo ist dagegen über solche Zweifel erhaben. Die Wochenzeitung zeichnet sich seit ihrer Gründung durch einen militanten Antiklerikalismus und eine ätzende Kritik an religiösen Fundamentalisten jeder Couleur aus. Insbesondere auch reaktionäre Christen gerieten immer wieder ins Visier der Zeichner und Texter.
Auch die neuste Ausgabe beschränkt sich nicht ausschließlich darauf, die dänischen Karikaturen nachzudrucken, vielmehr wurden über zwei Drittel der »Sondernummer« dem Thema der religiös motivierten Zensur gewidmet. Die Doppelseite in der Mitte füllt eine Bilderstory, die die Vorschriften und Tugendgebote aller Glaubensgruppen auseinandernimmt. Von den drei monotheistischen Religionen bis hin zu den Anhängern von Hare Krishna, Raël oder dem »Orden der Sonnentempler« kriegen alle ihr Fett weg. Die Gäste einer Party geben sich große Mühe, die wichtigsten Ge- und Verbote aller existierenden Religionen einzuhalten: Letztlich dürfen sie so gut wie überhaupt nichts mehr und geraten mit allen möglichen Regeln in Konflikt. Am Ende hat zwar niemand Spaß gehabt, aber das Haus steht in Flammen.
Neben der Titelseite mit einer eher schlappen Karikatur (»Mohammed, dem die Fundamentalisten über den Kopf wachsen: ›Es ist hart, von Deppen geliebt zu werden‹«) wird auch die klassische letzte Seite – die, wie üblich, das Dutzend von »Titelseiten, denen Sie in dieser Woche entgangen sind«, zeigt – dem Thema gewidmet. Eine Zeichnung zeigt die Überschrift »Gott existiert nicht« mit drei bis an die Zähne bewaffneten Fundamentalisten aller monotheistischen Religionen, die gemeinsam ausrufen: »Doch!« Eine andere fragt, ob man »Mohammed so zeigen darf, wie er heute ist« – ein Haufen verwester Knochen; eine dritte zeigt eine Gruppe von Mullahs, die ein Puppe Tintins, des Helden aus dem »Tim und Struppi«-Comic, verbrennen und sich fragen: »Seid Ihr wirklich sicher, dass dies die Karikatur des Propheten ist?«
In seinem Leitartikel warnt Chefredakteur Philippe Val vor einem Zurückweichen der Demokratie in Sachen Freiheit der Presse und der Kunst, wobei die von ihm bemühten Parallelen – das Münchener Abkommen von 1938 und der erfolgreiche Widerstand Dänemarks gegen die von NS-Deutschland verlangte Auslieferung der dänischen Juden – eine Nummer zu pathetisch wirken.
Gab es im Vorfeld der Veröffentlichung kontroverse Debatten bei Charlie Hebdo? möchte ich von Philippe Val wissen. »Nein, es herrschte Einstimmigkeit darüber, dass wir das publizieren werden. Die Diskussion dauerte zwei Minuten«, erklärt der Chefredakteur knapp.
Charlie Hebdo sorgte Mitte voriger Woche für Aufmerksamkeit allein durch die Ankündigung, man werde im kommenden Mai auch jene Karikaturen nachdrucken, deren Publikation die iranische Zeitung Hamshani angekündigt hat und die den Holocaust zum Gegenstand haben sollen. Von offizieller Seite im Iran glaubte man, die Europäer so an einem angeblichen Widerspruch packen zu können: Einerseits beriefen diese sich auf die Meinungsfreiheit, um »den Islam zu schmähen«, andererseits aber ließen sie dasselbe Argument der Meinungsfreiheit nicht gelten, sobald es um die Judenvernichtung gehe. Um dieses Argument – das einen »Doppelstandard« belegen soll – zu unterlaufen, hat Charlie Hebdo bereits den Nachdruck auch jener Zeichnungen in Aussicht gestellt.
Keineswegs aber geht es der Redaktion darum, auf diese Weise für eine Konzeption von Meinungsfreiheit einzutreten, die tatsächlich alles – jede Schmähung und jede Infragestellung der Shoah – für zulässig erklärt. »Wir werden diese Karikaturen mit einem kritischen Anmerkungsapparat umgeben, der von renommierten Historikern erstellt wird. Unser einziges Anliegen dabei ist es aufzuzeigen, dass die beiden Dinge unterschiedlicher Natur sind: Die dänischen Karikaturen hatten eine Kritik der Religion zum Gegenstand, wie sie in einer Demokratie notwendig ist – notwendig dann, wenn die Religion einen Einfluss auf die Politik auszuüben beansprucht«, sagt Philippe Val und fährt fort: »Bei den iranischen Zeichnungen dagegen handelt es sich um Aufstachelung zum Rassenhass und um die Beleidigung nicht einer Religion, sondern einer Gruppe von Menschen, die unveräußerbare Rechte haben. Einziger Grund der Veröffentlichung ist es, den fundamentalen Unterschied zwischen beiden aufzuzeigen.«
Ein Unterschied, den der amtierende Ratspräsident der Europäischen Union – der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel – nicht begriffen habe. Dieser habe in der vorigen Woche die umstrittenen Karikaturen und die Holocaustleugnung gleichgesetzt mit der Bemerkung, beide hätten »in einer Welt, in der alle Religionen zu respektieren sind«, keinen Platz. »Diesen Typen müsste man auf der Stelle entlassen«, meint Philippe Val, er habe »nicht begriffen, worauf Europa gegründet ist«.

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